Mitwirkungspflichten von Patienten bei der Begutachtung und in der medizinischen Rehabilitation
Autor: Ulrich Krähe, Richter am Sozialgericht Mannheim
1. Eingrenzung des Themas:
Gegenstand des Vortrags ist nicht der Patient an sich, sondern nur der Sozialleistungsbezieher bzw. –antragsteller, der zu begutachten ist oder an Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation teilnimmt. Dies kommt zum Beispiel bei der Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) oder beim Krankengeld (§§ 44 ff. SGB V) in Betracht.
2. Teilnahme an Untersuchungen, Mitwirkung an Maßnahmen der Heilbehandlung:
§ 62 SGB I begründet für diesen Personenkreis die Obliegenheit, sich auf Verlangen der zuständigen Behörde den erforderlichen ärztlichen/psychologischen Unter-suchungen zu unterziehen. Dies gilt entsprechend für die Mitwirkung an Maßnahmen der Heilbehandlung (§ 63 SGB I).
3. Grenzen dieser Obliegenheiten (§ 65 SGB I):
Diese Obliegenheiten bestehen im Einzelfall nicht, wenn
- ihre Erfüllung zu der streitigen Leistung nicht in einem angemessenen Verhältnis steht,
- ihre Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann,
- sich der Leistungsträger die erforderliche Kenntnis auf andere Weise mit einem geringeren Aufwand verschaffen kann,
- im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann,
- die Maßnahmen mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder
- die Untersuchung / Heilbehandlung einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit beinhaltet.
4. Folgen fehlender oder unzureichender Mitwirkung:
Die Mitwirkung kann nicht erzwungen werden, sie stellt lediglich eine Obliegenheit dar. Wenn der betroffene Bürger eine ihm zumutbare Mitwirkung verweigert, können (Ermessen) die bereits bezogenen Sozialleistungen entzogen bzw. die beantragten Sozialleistungen versagt werden (§ 66 SGB I). Bei Nachholung der Mitwirkung kommt eine nachträgliche (auch rückwirkende) Leistungsgewährung in Betracht (§ 67 SGB I). Eine endgültige Leistungsablehnung (häufige Verwaltungspraxis) ist bei unzureichender Mitwirkung strenggenommen unzulässig. Wenn die Mitwirkung nicht zumutbar ist bzw. verweigert werden darf, ergeht eine sogenannte Beweislastentscheidung, wobei die Unaufklärbarkeit des Sachverhaltes im Rahmen der Leistungsverwaltung zu Lasten des Bürgers geht. Der aus dem Strafrecht stammende Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt im Sozialrecht nicht.
5. Durchführung der gutachterlichen Untersuchung:
Der Gutachter, der im Auftrag einer Behörde oder eines Gerichtes tätig wird, übt eine hoheitliche Aufgabe aus. Daher ist die Untersuchung so durchzuführen, dass die Persönlichkeitsrechte gewahrt werden (vor allem Schutz der Intimsphäre und der Vertraulichkeit). Die Anwesenheit eines Beistandes oder des Bevollmächtigten ist in aller Regel zu dulden (vgl. § 13 Abs. 4 SGB X).
6. Probleme der Begutachtung und Rehabilitation bei Suchtkranken:
Der Grundsatz „Reha vor Rente“ (§ 8 SGB IX) richtet sich verfahrensrechtlich an die Verwaltung, das heißt, er wird nur wirksam, wenn der Rentenversicherungsträger eine Teilhabeleistung bzw. ein Heilverfahren konkret anbietet.
Gegenstand eines solchen Heilverfahrens kann und muss es meines Erachtens sein, die unter Umständen fehlende Krankheitseinsicht bzw. Behandlungsmotivation zu wecken. Die verbreitete Argumentation, während des laufenden Rentenverfahrens könne ein Heilverfahren nicht beansprucht werden, weil die hierfür erforderliche Motivation fehle bzw. eine günstige Reha-Prognose ausscheide, ist rechtlich in dieser Pauschalität daher nicht überzeugend. Im Übrigen hat der Rentenversicherungsträger ein Heilverfahren bei Vorliegen der Gesetzlichen Voraussetzungen (v. a. Erforderlichkeit zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit) auch ohne Antrag von Amts wegen zu erbringen. Zur Vermeidung von Nachteilen ist der Versicherte dann gehalten, diesem Heilverfahren zuzustimmen (§ 115 Abs. 4 SGB VI). Nur wenn der Versicherte ein solches konkret angebotenes Heilverfahren ablehnt, können die Rechtsfolgen fehlender Mitwirkung eintreten. Zudem ist es erforderlich, dass der Versicherte zuvor über diese Konsequenz in Kenntnis gesetzt worden ist.
Daher dürfte sich bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen die Bewilligung einer (befristeten) Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) in Kombination mit einer Behandlungs- oder Reha- Auflage (vgl. § 31 SGB X) anbieten.
7. Mitwirkung als Frage des materiellen Rechts:
Bestimmte Sozialleistungen stehen in einem Stufenverhältnis. Leistungen der nächst höheren Ebene können nur beansprucht werden, wenn die Leistungen der darunter liegenden Stufe von vorneherein ungeeignet bzw. nicht erfolgversprechend bzw. im Einzelfall nicht erfolgreich gewesen sind.
a. Der Anspruch auf stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation / Teilhabe:
Zwischen Leistungen zur akuten Krankenbehandlung (ambulant/stationär) und Leistungen zur Rehabilitation bzw. Teilhabe (ambulant/stationär) besteht ein Stufenverhältnis. Somit können Leistungen zur stationären medizinischen Rehabilitation nur dann beansprucht werden, wenn weder ambulante oder stationäre Maßnahmen der Krankenbehandlung noch ambulante Maßnahmen der Rehabilitation ausreichend bzw. erfolgversprechend sind.
b. Der Anspruch auf Durchführung chirurgischer Maßnahmen zur Behandlung der Adipositas im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung:
Zur Auslegung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 12 Abs. 1 SGB V) und des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse nimmt das BSG (bspw. Urteil vom 16.12.2008 – B 1 KR 2/08 R) auf die „Evidenzbasierte Leitlinie Chirurgische Therapie der extremen Adipositas“ der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (www.adipositas-gesellschaft.de) Bezug. Hiernach kommt eine Magenverkleinerungsoperation nur als „ultima ratio“ in Betracht, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- Adipositas III (BMI 40 kg/m² oder mehr) oder Adipositas II (BMI 35 kg/m² oder mehr) und erhebliche Begleiterkrankungen
- Längerfristige (in der Regel mindestens ein Jahr) konservative multimodale interdisziplinäre Therapie unter ärztlicher Aufsicht (erfolglos) ausgeschöpft
- Keine Kontraindikationen (bspw. Abhängigkeitserkrankungen, konsumierende und immundefizitäre Erkrankungen, Essstörungen). Vorbehalte bestehen bspw. auch bei Psychosen,
- Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen.
- Tolerables Operationsrisiko
- Gewährleistung einer langfristige Nachbetreuung